"Mit Sehnsucht wartent ..." - Liebesbriefe im Ersten Weltkrieg
Ein Plädoyer für einen erweiterten Genrebegriff
von Christa Hämmerle
In den Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften werden Liebesbriefe, für die auch das obige Beispiel stehen mag, meist zu einem eigenen Genre erhoben. Zugleich ist ihre Geschichte in einem besonderen Spannungsfeld zu verorten: Sie hat einerseits die starke Normierung eines solchen Genres, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von literarischen oder ästhetischen Vorgaben und Konventionen determiniert scheint, in den Blick zu nehmen. Andererseits muss sie ebenso die vielen historisch wachsenden Praktiken von Schriftlichkeit berücksichtigen. In der Forschung, die sich lange primär auf bildungsbürgerliche Kontexte und Traditionen des Liebesbriefes konzentriert hat, wird vor allem Ersteres betont: nämlich dass Liebesbriefe als "besondere ästhetische Kommunikationsform"1, als "cultural artifact" oder "highly coded forms"2 zu definieren sind. Dabei wird insbesondere auf ihre Prägung durch spezielle Anleitungsliteratur - die Universal- oder Liebesbriefsteller mit ihren vielen Musterbriefen - verwiesen, die von der Anrede bis zur Schlusssequenz, von einzuhaltenden äußeren Formalien bis hin zu den vorgegebenen Liebescodes wirkt. Diese wiederum sind in der Moderne eng an literarische Konventionen der Romantik und das Konzept der romantischen Liebe gebunden, die ihrerseits - nicht weniger normierend - gerade das "Eigene" oder "Individuelle", und damit auch den "wahren" oder "authentischen" Ausdruck von Emotion kultiviert hat. Vor diesem Hintergrund wird der Liebesbrief als "intimste Spielart" des sich im 18. Jahrhundert etablierenden Privatbriefes gesehen, der die Tendenz habe, "der ganz persönlichen Selbst-Äußerung den meisten Raum zu bieten, das eigene Ich dem geliebten Partner so unverhüllt wie in keiner anderen Briefart zu manifestieren".3 Oder er wird generell als "Schreiben über die Liebe in einem ihr gewidmeten Medium"4 definiert.
Für den hier zitierten Brief des Zugbegleiters Franz Kundera, geboren am 22.8.1896 in Kwitkowitz im damaligen Bezirk Ungarisch Hradisch in Mähren, gilt all das nur bedingt: Er enthält zwar, anders als in seinen bis dahin geschriebenen Briefen an die damals gerade 17-jährige Anna Mitterhofer der Fall, durchaus eine explizite Liebeserklärung. Der Verfasser apostrophiert sogar die gängigen Metaphern vom "gebrochenen", "kühlen" oder "heißen Herz". Denn die kurz zuvor erhaltene Nachricht, dass seine Briefpartnerin, mit der er seit März 1917 korrespondierte, mit dem gemeinsamen Freund Hansl aus demselben Dorf "geht", hatte ihn ungeachtet aller räumlichen Distanz zur Offenbarung seiner Liebe veranlasst. Und bewirkt, dass er diesmal in Tinte und Schönschrift gleich zwei kleinformatige Papierbögen beschrieb5 - wobei der erste, nicht ohne auf die gewohnten Eingangsformeln zu verzichten, eben seiner Liebesbekundung und dem Ausdruck seiner Emotion diente, und der zweite dann doch noch Leitthemen der vorhergegangenen Korrespondenz fortführte. Diese hatte sich, ähnlich wie die meisten Briefe nach dem hier vorgestellten Beispiel, insbesondere um seinen Dienst als Zugbegleiter und - ganz wichtig - gesandte Zigaretten und die Post gedreht, auf die oft lange gewartet werden musste. Des weiteren sind das gegenseitige Wohlbefinden und der Schlaf, die Freizeit, Neuigkeiten über Bekannte, die Aussicht auf Urlaub und die mehrfache Zerschlagung dieser Hoffnung häufige Themen dieser Briefe. Daneben enthalten sie natürlich Bezugnahmen auf Inhalte der nicht überlieferten Schreiben ihrer Adressatin, die so wenigstens indirekt erschlossen werden können. Dabei bleiben Eingangs- und Schlusssequenzen fast gleichlautend stereotyp, nur eine gesteigerte Verwendung von Liebesformeln in der Anrede ("Liebstes Annerl") und Verabschiedung ("Es grüßt und Küßt Dich Dein treuer Franz") und im Ausdruck von Heimweh ist zu konstatieren.
Franz Kundera schrieb demnach mehrheitlich keine Liebesbriefe im obigen Sinn, auch wenn seine ersten Schreiben den eingangs zitierten Brief in gewisser Weise vorbereitet haben, indem es dort zum Beispiel hieß: "Habe mich auch vorgestern in Krakau Fotografieren lassen und bekomme die Bilder am 3./IV. Wenn ichs bekomm werde ich Dir gleich ein Bild schicken." (25.3.1917) "Es freut mich sehr daß Du mir so fleißig schreibst den es schreibt mir ja niemand /so/ viel wie Du Liebes Annerl. Ich danke Dir vielmals für die mir geschickten Zigaretten ..." (26.5.1917) In ihrer Gesamtheit verweist diese im Stil und der narrativen Struktur wenig elaborierte Korrespondenz jedoch auf eine große Bandbreite und Vielfalt, einen fließenden Übergang zwischen verschiedenen Ausdrucksformen und Inhalten des Schreibens über Liebe im Medium des Briefes, die ebenso den Austausch von Alltäglichkeit und Dingen beinhaltet. Ihr geringer Grad an Ästhetisierung ("low level of aestheticization") ist - auch nach Eva Lia Wyss, die sich seit längerem als Linguistin mit Liebeskorrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt - kein Grund, sie per definitionem aus dem Genre auszuklammern, selbst wenn dieses lange und wirkmächtig von bildungsbürgerlichen Prämissen determiniert blieb.6 Das hier stellvertretend für unzählige andere solcher Briefe stehende Beispiel sollte vielmehr dazu veranlassen, kritisch darüber zu reflektieren, was ein Liebesbrief ist und wie, auf der Grundlage eines offenen Genrebegriffs, auch seine Praktiken im popularen Schreiben für emotionsgeschichtliche Ansätze nutzbar gemacht werden könnte.7
Der Blick auf die Zeit des Ersten Weltkriegs, aus der die überlieferte Korrespondenz von Franz Kundera stammt, macht das augenscheinlich. Diese Katastrophenjahre brachten es mit sich, dass so viel Menschen wie nie zuvor mehr oder weniger abrupt getrennt wurden - was wenn überhaupt nur mittels ihrer weit in die Milliarden gehenden Briefe, Karten und Paketsendungen zu "überbrücken" war.8 Angesichts der Dissolution gewohnter Verhältnisse, Bindungen und Intimitäten, der vielen trennenden (Gewalt-)Erfahrungen, führte daher schon der Erste Weltkrieg zu einer wahren Explosion des "privaten" Schreibens in Form von postalischen "Lebenszeichen" und "Liebesbeweisen". Aufgrund einer weitgehenden Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht in den Jahrzehnten davor baute das zum einen auf im Lehrplan des Unterrichts erlernten epistologischen Normen, die auch den Ausdruck von Gefühl codierten.9 Andererseits wirkte die Kriegssituation selbst in Ländern oder Regionen, die damals einen noch hohen Anteil an illiterater Bevölkerung hatten, als Katalysator des Schreibens.10 Hier wie allerorts war diese Korrespondenz unterschiedlich gehandhabten Zensursystemen unterworfen, vor allem wenn sie als Feldpost von den Fronten in die Heimat ging. Dabei interessierte die Zensoren primär die Informationsübermittlung zum Einsatzort und Kriegsverlauf oder Militärkritik, und nicht die zentralen Themen solcher Briefe und Karten - nämlich Liebe, Familie und Verwandtschaft, oder Freundschaft, Alltäglichkeit und Wohlbefinden etc.; alles Themen, über die im Jahr 1917 auch Franz Kundera schrieb.
Sein Beispiel zeigt auch, dass es dabei nicht nur um eine briefliche Fortsetzung bestehender "ziviler" Identitäten und Bindungen ging; Liebesbriefe - ob im Frieden oder im Krieg geschrieben - haben zudem eine andere wichtige Funktion. Sie wollen etwas bewirken, das heißt entweder eine Liebesbeziehung überhaupt erst anbahnen oder eine solche weiter aufbauen, festigen, verändern, beziehungsweise auch stets aufs Neue verhandeln. Derartige Funktionen wurden in der Forschung bislang vor allem am Beispiel der bis in die 1960er-Jahre hinein stark konventionalisierten Verlobungskorrespondenz diskutiert.11 Daher ist das Schreiben von (Liebes-)Briefen, wie jenes von Selbstzeugnissen generell, immer auch ein performativer Akt. In solchen Zeugnissen werden Gefühle, hier Liebe und damit verbundene andere Emotionen wie Fürsorge, Vertrauen, Sehnsucht, Eifersucht oder Schmerz und Zorn, nicht nur formuliert oder ausgedrückt und sich selbst und dem Anderen mitgeteilt. Vielmehr bedeutet das Schreiben auch ein Handeln, ja das "Machen" von Gefühl - getragen vom Wunsch, damit beim Empfänger/der Empfängerin etwas in Gang zu setzen. Ein (Liebes-)Brief zielt metaphorisch gesprochen direkt in das Herz des/der Anderen, soll dort Gefühle entfachen und leiten. In der Tat gelang es Franz Kundera nach seinem explizit formulierten Liebesbekenntnis seine Briefpartnerin Anna "für sich zu gewinnen". Dazu hatte er nicht einmal das ersehnte Wiedersehen im Zuge eines Heimaturlaubs benötigt, sondern eben "nur" den Brief, inklusive seiner stark formalisierten, von Grußritualen, Dankes- und Höflichkeitsformeln geprägten Ausrichtung.
Unter den Auspizien der langen, kriegsbedingten Trennung tritt demnach die erwähnte Performanz des Liebesbriefes besonders deutlich zutage. Sie benötigt das Medium, nicht die ersehnte körperliche, "reale" Präsenz, von deren Fehlen zudem durch den Fetischcharakter solcher Briefe abgelenkt werden konnte: "Meine einzige Freude ist noch wenn ich vom Dienst nach Hause komme und ich sehe von Dir einen Brief. Den lese ich immer 5-6 mal und denke dabei an Dich und die schöhne Heimat." (15.6.1917) Auch darum mündete diese Korrespondenz in einem "Miteinander Gehen", schließlich sogar in einer Eheschließung: Nachdem Franz Kundera Ende 1917, als der Friedensschluss zwischen Österreich-Ungarn und der neu gebildeten Sowjetrepublik bereits absehbar war, endlich aus seinem Einsatzort Poldz-Plaszow nahe Krakau abgezogen wurde, kehrte er auch Kritzendorf nahe Wien zurück, wo er und Anna Mitterhofer lebten. Er dürfte im letzten Kriegsjahr 1918 dann weiterhin als Eisenbahner stationiert worden sein, musste also nicht mehr direkt zum Militär einrücken. Der "Trauungs-Schein" belegt, dass das Paar am 27. September 1919 geheiratet hat; Franz Kundera ist darin als "Aushilfskondukteur" geführt.12
Auch in anderer Hinsicht scheinen seine Schreiben aus dieser Zeit bezeichnend für Fragen nach dem Kontext von Liebe und Krieg - selbst wenn sie nicht als Feldpost im eigentlichen Sinn zu definieren sind, da ihr Autor nicht ein im Kampf eingesetzter Soldat war, der um seinen Tod fürchten musste, sondern bei der laut Kriegsleistungsgesetz von 1912 für militärische Zwecke gewidmeten Eisenbahn diente. Vermutlich wurde er darum - entgegen seiner mehrfach geäußerten Befürchtung, "daß wir jetzt bald Einrücken werden" (7.9.1917, 12.9.1917) - damals eben nicht eingezogen. In einem vom Kriegsgeschehen von Beginn an stark gezeichneten, der Militärgerichtsbarkeit wie der "Inlandsbriefzensur" unterstellten Gebiet stationiert war er gleichwohl: Im Jahr 1917, als Kundera kurz nach der Russischen Februarrevolution und der erzwungenen Abdankung des Zaren Nikolaus II. ab den 22. März seine ersten überlieferten Briefe an "Annerl" schrieb, hatte der Krieg rund um die Festungsstadt Krakau bereits lange "gewütet". Galizien war, wie die Bukowina, schon im Sommer 1914 "vom Siedlungsraum und Kornspeicher Österreichs zum Aufmarschraum [mutiert]",13 in der Folge wurden dort ganze Dörfer und Städte zerstört und wechselweise besetzt, es gab gewaltige Flucht- und (Zwangs-)Evakuierungsbewegungen der zivilen Bevölkerung, die erst im Laufe des Jahres 1917 beziehungsweise unmittelbar nach der Rückeroberung weiterer Gebiete durch die Mittelmächte im Zuge der gescheiterten russischen Kerenski-Offensive teilweise wieder rückgeführt wurde - in eine Region, in der rund 70.000 Quadratkilometer verwüstet und rund 7 Millionen Menschen "von den Verheerungen betroffen" waren.14
Von all dem schrieb Franz Kundera so gut wie nichts. Obwohl er sicher mit solchen Auswirkungen konfrontiert war, nicht zuletzt da er als Zugsbegleiter von Krakau aus beispielsweise mehrfach bis in die unmittelbar betroffenen Städte Lemberg und Przemysl fuhr, bleibt der Krieg in seinen Briefen ein marginales Thema. Er bricht - äußerst selten - nur dann ein, wenn Kundera wie im zitierten Beispiel Nachricht von der Verwundung gemeinsamer Bekannter erhielt, und wird ansonsten nur vage beziehungsweise nur in Form eines uneigentlichen Sprechens etwa in metaphorischen Redeweisen behandelt: primär als etwas, was quer zu seinen Urlaubs- oder Versetzungswünschen steht und dazu führte, dass die Situation auch an seinem Standort immer schlechter wurde: "Man muß sich halt gedulden. der Krieg wird ja auch einmal ein Ende nehmen den wird es wieder besser werden. Mit dem nach Hause fahren weiß ich ja selber nicht mehr wan es sein wird ..." (21.5.1917); "Am anfang haben wir wenigstens was zu Essen gehabt aber jetzt wird es viel schlechter wie in Wien." (24.11.1917) "Der Krampus braucht uns ja glaube ich garnichtmehr holen den wenn es so weiter geht so wird uns ja der Teufel bald alle holen." (5.12.1917)
Sich auf die Analyse der Verarbeitungsweisen erfahrener oder zumindest wahrgenommener Kriegsgewalt und -zerstörung in solchen Korrespondenzen zu konzentrieren, würde jedoch bedeuten, ihre primären Funktionen zu verkennen, die für emotionsgeschichtliche Fragestellungen besonders aufschlussreich sind: Solche Briefe und Karten dienten vor allem dazu, kriegsbedingt entzweite Beziehungen zu überbrücken, den Alltagsdialog inklusive aller Redundanzen zu ersetzen und die im "Privaten" verorteten Emotionen zwischen sich liebenden Paaren, Müttern und Söhnen oder anderen Formen einer (Liebes-)Beziehung zu stiften. Daher sind nicht nur die vielen emotiven Floskeln, Sehnsuchtsbekundungen und Liebesäußerungen - wie rudimentär oder ungeübt formuliert auch immer - von Bedeutung, sondern auch die sprachlichen Spielarten der Meta- oder Paraphrase und des Euphemismus, die nicht primär Ausdruck einer von "außen" oder auch selbst auferlegten "inneren" Zensur15 sein müssen. Sie können ebenso als Teil eines kontinuierlich versuchten "doing emotion" verstanden werden, das insgesamt darauf zielte, die Situation im Krieg zumindest aushaltbar zu machen. Das Schreiben im Krieg wirkte so gesehen funktional zu den "Erfordernissen" der Zeit, auch in emotionaler Hinsicht - eben gerade weil darin unter Ausklammerung anderer Themen (bis hin zu jenem der sexuellen Untreue) Liebe auch erhöht werden konnte. Für den Zweiten Weltkrieg hat Martin Humburg diese "kathartische" und "kompensatorische" Bedeutung von Feldpost pointiert beschrieben als Tendenz, mittels der "die Liebe gleichsam entschlackt [wird] von den Auseinandersetzungen, die eine tägliche Begegnung zwischen Menschen normalerweise prägen. Die Liebe wird zu einem reinen Ort und damit im Kriegsalltag auch zu einer Quelle von Kraft und zumindest seelischer Erholung."16
Freilich gab es dazu gerade in der Situation eines Krieges viele Widrigkeiten, die dem Versuch der Schreibenden, brieflich einen Kosmos romantischer Liebe heraufzubeschwören, entgegen liefen. Auch das ist im hier besprochenen Briefbeispiel von Franz Kundera zumindest angedeutet und ein wichtiges Thema vieler anderer Briefe von ihm: Wenn er konstatiert, nicht "böse" zu sein, weil "Annerl" ihm lange nicht schrieb, stellt er so den für funktionierende (Liebes-)Korrespondenz notwendigen "epistolary pact" wieder her.17 Dieser beinhaltet das stillschweigende Einverständnis, auf erhaltene Briefe umgehend zumindest in der gleichen Ausführlichkeit zu antworten und dabei bestimmte Schreibgepflogenheiten einzuhalten – was im Ersten Weltkrieg oft nicht möglich war oder ständig irritiert wurde, wie ein letztes, die sich anbahnende Liebe zwischen Franz Kundera und Anna Mitterhofer gefährdendes Beispiel veranschaulichen soll: "Liebes Annerl Du mußt wohl sehr wenig Zeit haben oder bist Du vielleicht böße da Du mir garkeine Antwort schreibst? Habe Dir schon 2 mal geschrieben und noch immer keine Antwort. Habe Dir vor 3 Wochen geschrieben und da erhielt ich von Dir einen Brief ob ich auf Dich böße bin da ich nichts schreibe ..." (7.4.1917)
Solche Äußerungen sind in den hier vorgestellten Briefquellen äußerst häufig und verweisen darauf, dass das Postwesen im Ersten Weltkrieg oft mehr schlecht als recht funktioniert hat. Das evozierte Protest und verstärkte noch das stete Bemühen der Obrigkeiten wie der Kriegspropaganda, den Inhalt der Feldpost im Sinne notwendiger Kriegsmoral und entsprechender Gefühlsregime zu beeinflussen. Für die Betroffenen bedeuteten die vielen Postunterbrechungen oder der Umstand, dass Briefe, Paketen und Karten oft wochenlang ausblieben oder überhaupt nicht ankamen, vor allem den wiederkehrenden Einbruch in ihre hier beschriebene "Arbeit" am Gefühl Liebe, die von daher immer auch scheitern konnte. Denn es machte den für sie essentiellen "epistolary pact" fragil und evozierte Unsicherheit, Angst, Verzweiflung... also Emotionen, deren Relationen zur Geschichte der Liebe im Krieg anhand solcher Quellen ebenfalls untersucht werden könnten. So würde sich ebenfalls zeigen, dass Gefühle immer kontextgebunden sind und auf sehr verschiedene Art und Weise re/konstruiert werden können; der hier offen und fluide definierte Liebesbrief ist eine, kulturell stark verankerte und von daher auch in Zeiten des Ersten Weltkriegs mehr oder weniger wirksame Möglichkeit dafür.
Referenzen
1 Renate Stauf, Anette Simonis, and Jörg Paulus, Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Berlin/New York: de Gruyter, 2008) 2, 6.
2 Martyn Lyons, "Love Letters and Writing Practices: On Écritures Intimes in the Nineteenth Century," Journal of Family History 24, No. 2 (April 1999): 232-39, hier 232, 233.
3 Reinhard M. G. Nikisch, Brief (Stuttgart: Metzler Verlag, 1991) 43, 15.
4 Bettina Marxer, "Liebesbriefe, und was nun einmal so genannt wird". Korrespondenzen zwischen Arthur Schnitzler, Olga Waissnix und Marie Reinhard: Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Lektüre (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001), 2.
5 Von den 44 erhalten gebliebenen Briefen des Franz Kundera, datiert vom 22.3.1917 bis zum 15.12.1917, sind fast alle in Bleistift und auf einem vierseitigen Papierbogen verfasst. Sie sind heute als NL 75/I in der "Sammlung Frauennachlässe"am Institut für Geschichte der Universität Wien archiviert; vgl. www.univie.ac.at/geschichte/sfn.
6 Evy L. Wyss, "From the Bridal letter to Online Flirting. Changes in Text Type from the Nineteenth Century to the Internet Era," Journal of Historical Pragmatics 9, no. 2 (2008): 225-254, hier 232.
7 Das sind Fragestellungen des vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekts "(Über) Liebe schreiben? Historische Analysen zum Verhandeln von Geschlechterbeziehungen und -positionen in Paarkorrespondenzen des 19. und 20. Jahrhunderts", geleitet von Ingrid Bauer und Christa Hämmerle, aus dessen Quellenbestand das hier analysierte Briefbeispiel stammt.
8 Allein im Deutschen Reich sollen im Laufe des Ersten Weltkriegs rund 28,7 Milliarden Poststücke befördert worden sein, in Frankreich waren es angeblich 10 Milliarden, d.h. 4 Millionen täglich.
9 Am Beispiel von Frankreich hat das etwa Martha Hanna, "A Republic of Letters: The Epistolary Tradition in France During World War I," American Historical Review 108 (December 2003): 1338-61, bes. 1343-48, aufgezeigt.
10 Für Italien Marco Mondini, "Papierhelden. Briefe von der Front während des Ersten Weltkrieges in Italien und die Schaffung eines männlich-kriegerischen Bildes," in Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Veit Didczuneit, Jens Ebert, and Thomas Jander, eds. (Essen: Klartext Verlagsgesellschaft, 2011), 185-92.
11 Vgl. etwa Wyss, "Bridal Letter".
12 Faksimile des Trauungs-Scheins, ausgestellt von der Pfarre Kritzendorf, Polit. Bezirk Tulln, Trauungsbuch Tom. L. Fol 135, 29. Sept. 1919, dankenswerterweise übermittelt von Roman Stani-Fertl.
13 Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918 (Wien: Böhlau, 2013), 836.
14 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, 849.
15 Die Unterscheidung zwischen "äußerer" und "innerer" Zensur, die das Medium Brief im Krieg prägt, ist in der Feldpostforschung gängig.
16 Martin Humburg, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtsoldaten aus der Sowjetunion 1941-1944 (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998), 62.
17 Cécile Dauphin, Pézerat Pierrette, and Danièle Poublan (éds.), Ces Bonnes Lettres. Une correspondance familiale au XIXe siècle (Paris: Albin Michel, 1995), entwickelt in Anlehnung an Philippe Lejeunes Konzept des "autobiografischen Paktes".