Die "Wilden Männer" von Dalldorf
Emotionen an der Schwelle psychiatrischer Institutionen Mitte der 1880er Jahre in Berlin
von Eric J. Engstrom
Heute widmet sich ein großer Teil der psychiatrischen Historiographie vornehmlich Geschichten der Unterwerfung und Einkerkerung von Patienten. In dieser Art der Geschichtsschreibung gibt es mindestens zwei große Erzählstränge: Einer stellt die Einkerkerung und die Disziplinarregime der Anstalten ins Zentrum, während der andere, davon abgeleitete Ansatz eine Patientenperspektive einnimmt und quasi "von unten" die Auswirkungen dieser Regime betrachtet und/oder den subjektiven Widerstand gegen sie thematisiert. Beide Erzählformen leiten ihre Legitimation (und ihren Elan) von den Vorgaben ab, die sich ihre Autoren selbst als Kritiker psychiatrischer Einrichtungen und medizinischer Praxis gesetzt haben. Eine kürzlich erschienene Monografie stellte sogar apodiktisch fest: "Eine Geschichte der Psychiatrie ist ohne Psychiatriekritik nicht zu schreiben."1 Solche Annahmen spiegeln eine produktive, wenn auch seit langem überstrapazierte Deutungsperspektive wider, die aus der De-Institutionalisierung und der Anti-Psychiatrie-Bewegung der 1960er und 70er hervorgegangen ist. Was diese Perspektive aber meist übersehen hat, ist, dass Patienten nicht nur in psychiatrische Anstalten eingewiesen, sondern auch aus ihnen entlassen wurden. Zu häufig haben Historiker die psychiatrische Anstalt als bloße Verwahranstalt gedeutet und dabei ignoriert, dass mehr oder weniger geheilte oder genesende Patienten die Anstalten auch verließen und in ihre lokalen Nachbarschaften und Familien zurückkehrten.
Eine Geschichte der Gefühle kann helfen, dieses historiographische Defizit zu tilgen, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf die Schwellenbereiche psychiatrischer Anstalten lenkt. Diese Schwellen sind zu Recht als Grenzen zwischen unterschiedlichen Herrschaftsregimen von Wissen und Macht zu deuten: als Grenzen, die die Marginalisierung und Stigmatisierung sozialer Abweichungen von ihrer Medikalisierung trennen, oder als Grenzen, die die "therapeutische" Arbeit der Resozialisierung und Normalisierung abstecken. Doch diese Schwellen sind auch als emotionale Schwellen zu begreifen. Sie bildeten das Terrain, auf dem zahlreiche, sich überlappende Emotionen für jeden gegenwärtig waren, der mit der Einweisung von sozial untragbaren "Verrückten" und/oder mit der Entlassung von im medizinischen Sinn "geheilten" Patienten zu tun hatte. Die emotionalen Dispositionen von Familien, Nachbarn, Bürgern, Ärzten, der Öffentlichkeit, der Polizei usw. erzeugten eine regelrechte "Ökologie der Emotionen", die Lebenswelt und Verhalten der historischen Akteure formte und Sinn gab. Schenken wir dieser Ökologie größere Aufmerksamkeit, können wir zu plausibleren Geschichten gelangen, die sich der eigenen gesunden, zugleich aber auch anachronistischen Skepsis gegenüber psychiatrischen Anstalten weniger unreflektiert hingeben.
Die Anstaltspsychiater des 19. Jahrhunderts waren sich der emotionalen Dynamiken, die die Institutionalisierung mit sich brachte, durchaus bewusst. Die Einweisung an sich bildete sogar einen Teil ihres therapeutischen Arsenals. Der emotionale "Schock", den Patienten bei ihrer Aufnahme erlebten, wurde als therapeutisch hilfreich angesehen: die veränderte tägliche Routine, das Lösen von schädlichen familiären und sozialen Verbindungen und der Wiederaufbau neuer und gesünderer Formen von sozialer Gemeinsamkeit – dies waren essentielle Bestandteile der emotionalen Arbeit, die durch die patriarchale Anstalts-"Familie" institutionell geleistet wurde.
Sofern Historiker diese Grenze als emotionales Terrain interpretiert haben, war ihr Fokus zumeist auf die Angst vor der Institutionalisierung beschränkt. Genauer genommen wurde dieses emotionale Terrain von einem größeren Narrativ eingenommen und überlagert –einem Narrativ über die illegale Festsetzung und ihre Konsequenzen für das Ansehen des Patienten in den Augen von Verwandten, Freunden, der Gesellschaft und des Gesetzes. Diese Interpretation wird jedoch dem größeren Spektrum von Emotionen und emotionalen Praktiken, die mit der Überquerung der Anstaltsschwelle verbunden waren, nicht gerecht. Ganz offensichtlich greift diese Interpretation z.B. nur für eine Seite einer wichtigen emotionalen Doppelmoral, die die Anstaltsschwelle durchdringt: die Ängste, die entlang dieser Schwelle entstehen, umfassen nicht nur die Sorgen um "sich Selbst" beim Eintritt in die Anstalt, sondern auch die Sorgen über den "Anderen", der wieder aus ihr heraustritt.
Die hier wiederveröffentlichten Dokumente helfen uns, die komplexen emotionalen Dynamiken zu problematisieren, die bei der Entlassung aus psychiatrischen Anstalten auftraten. Insbesondere helfen sie uns zu verstehen, dass die Anstalt, als ein in der Vorstellung der zeitungslesenden Öffentlichkeit in Berlin potentiell gefährlicher Ort, nicht nur Besorgnis erregte, weil sie hart erkämpfte freiheitliche Selbstbestimmungsrechte und soziales Ansehen bedrohte, sondern auch weil sie Menschen beherbergte, die als eine Bedrohung dargestellt und wahrgenommen wurden.
Will man aber die Ängste, die nicht nur mit der Einweisung, sondern auch mit der Entlassung verknüpft waren, erforschen, müssen andere historische Kontexte untersucht und neue Geschichten erzählt werden. Dabei soll aber hervorgehoben werden, dass diese Neuausrichtung keineswegs eine Feststellung des amorphen Gehalts oder gar der Intensität von Ängsten, die an der Schwelle zur Anstalt auftreten, voraussetzt. Es wird genügen – ohne real-existierende Ängste vorauszusetzen oder leugnen zu müssen – Antworten auf die Frage zu suchen, wozu und unter welchen Bedingungen man vermeintliche Ängste zu managen und/oder zu mobilisieren versucht hat.
Ein Gutteil der frühen Legitimation psychiatrischer Heilanstalten entwickelte sich aus der breiten Kritik an Gefängnissen, die es nur selten vermochten, eine adäquate psychiatrische Versorgung der Insassen zu gewährleisten. Entsprechend argumentierten Reformer im frühen 19. Jahrhundert, dass viele Gefängnisinsassen eigentlich geisteskrank seien und eher in psychiatrischen Anstalten behandelt als in Gefängnissen bestraft werden sollten. Darüber hinaus insistierten ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Anstaltspsychiater darauf, dass alle Formen psychiatrischer Behandlung ohne Anwendung mechanischer Zwangsmaßnahmen erfolgen sollten. Die Verfechter dieser Doktrin des sogenannten "non-restraint" – in Deutschland als freie Behandlung übersetzt – erreichten, dass die meisten Formen körperlicher Zwangsmittel (Zwangsjacke, -handschuhe, -stühle, etc.) nicht mehr in psychiatrischen Anstalten angewendet oder ihr Gebrauch zumindest stark eingeschränkt wurde. Obwohl sie häufig durch verfeinerte Kontrolltechniken ersetzt wurden (z.B. Überwachung oder medikamentöse Ruhigstellung), war die Abschaffung von körperlichen Zwangsmitteln ein wichtiger therapeutischer und berufspolitischer Schritt hin zu einer deutlicheren Abgrenzung psychiatrischer Einrichtungen von Gefängnis- und Strafanstalten.
Als Berlins erste psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt 1880 in Dalldorf eröffnet wurde, war sie im Geiste des "non-restraint" konzipiert. Das Statut der Anstalt legte ausdrücklich fest, dass geheilte Patienten umgehend entlassen werden sollten und räumte die Möglichkeit einer vorläufigen Entlassung von gebesserten oder genesenden Patienten ausdrücklich ein.2 Der erste Anstaltsdirektor hatte bereits vor der Eröffnung Dalldorfs lange Zeit die Politik verfolgt, seine Patienten möglichst freien Ausgang zu gewähren. Somit kam es nicht selten vor, dass Patienten – entweder allein oder in Begleitung von Aufsichtspersonen oder Familienangehörigen – das Gelände der Anstalt verlassen durften.3 Ab 1883 begannen die Anstaltsärzte zusätzlich ein System der sogenannten Familienfürsorge aufzubauen, die eine Versorgung genesender Patienten außerhalb der Anstalt ermöglichen sollte.4 Diese und ähnliche non-restraint-Maßnahmen – ganz abgesehen von ihrer therapeutischen Wirkung – wurden auch deswegen eingesetzt, um das Image der Anstalt in das einer nicht-strafenden, medizinischen Einrichtung zu verwandeln. Von der größeren Bewegungsfreiheit der Patienten erhofften sich die Dalldorfer Anstaltsärzte den Familien von der emotionalen Bürde, ihren Angehörigen in eine Anstalt eingewiesen zu wissen, zu entlasten.5
Auch im Umgang mit sogenannten "geisteskranken Verbrechern" versuchten die Dalldorfer Anstaltsärzte ihre Politik der "freien Behandlung" umzusetzen. Nicht ganz ein Jahr nach dem Dalldorf eröffnet wurde, berichteten die Ärzte über ihre Erfolge bei der Gewährung von Freigängen für diese Patienten.6 Um ihre Politik zu untermauern, verwiesen die Ärzte auf § 23 des Strafgesetzbuches, der Freigang von Gefängnisinsassen bei guter Führung vorsah. Dementsprechend entwarfen sie Bewertungskriterien anhand derer entschieden werden konnte, ob die vorläufige Entlassung eines Patienten gewährt werden könnte. Gleichzeitig bestanden sie aber auch darauf, dass weder formale Kriterien, noch die Tatsache, dass einige Patienten Wiederholungstäter waren, die Gleichbehandlung verhindern sollten. Durchaus überzeugt von ihren therapeutischen Fähigkeiten betonten sie, dass obwohl "ein einzelner Fall uns einmal täuschen und dadurch Unannehmlichkeiten bereiten kann", durfte dies "uns bei der grossen Wohltat, welche wir durch die Beurlaubung so Vielen erweisen, nicht abschrecken."7 So bestanden die Dalldorfer Anstaltsärzte darauf, dass der "geisteskranke Verbrecher", wie jeder andere psychiatrische Patient, Anspruch auf diese rehabilitative Therapie habe und hofften, dass diese Therapie die Aussichten auf Resozialisierung verbessern und Patienten vor dem Rückfall in den Wahnsinn und/oder das Verbrechen bewahren würde.
Abgesehen vom vermeintlichen therapeutischen Effekt der frühen Entlassung, wollten Ärzte die öffentlichen Ängste beschwichtigen und jene Stigmata bekämpfen, die ihre Rehabilitationsversuche gefährdeten. Sie waren scharfe Kritiker von Stimmen in der Öffentlichkeit, die psychisch erkrankte Straftäter als "etwas Ungeheuerliches" bezeichneten. Die Ärzte hielten es für ihre Pflicht, sich der "unverständigen Furcht" der Öffentlichkeit entgegenzustellen und aufgeklärtere Ansichten zu fördern, "damit eine innere Harmonie zwischen der richtigen Einsicht bei den Mitbürgern und der freieren Aussenform, in welcher unsere Anstalt sich jetzt zeigt, hergestellt werde."8
Diese Versuche, eine weniger emotional angespannte Beziehung zwischen Dalldorf und den Bürgern von Berlin herzustellen, erfuhren mit der dramatischen Veränderung des politischen Klimas um 1880 starken Gegenwind.Dieser Veränderung ging ein versuchtes Attentat gegen den deutschen Kaiser voraus, als er mit seinem Gefolge am 2. Juni 1878 Unter den Linden entlangritt. Es war der dritte Anschlag auf Wilhelm I., aber im Gegensatz zu den ersten beiden wurde der Kaiser dieses Mal ernsthaft verwundet. Zudem wurde die Tat von einem geistig gestörten Angreifer verübt. Der Reichskanzler Otto von Bismarck nutzte diesen Angriff aus, um seine parlamentarische Allianz mit den Liberalen zu beenden und auf eine viel stärker rechts ausgerichtete Innenpolitik umzuschwenken; unter Schürung und Ausnutzung von Revolutionsängsten bei gleichzeitig hartem Durchgreifen gegen die Sozialistische Partei setzte Bismarck eine sozial-konservative Innenpolitik um, die darauf ausgerichtet war, die Arbeiterklasse zu re-christianisieren und an den preußischen Staat zu binden. Dieser grundlegende politische Richtungswechsel war begleitet von einem umfassenden und dezidiert moralischen Diskurs über steigende Kriminalitätsraten, der nach 1882 durch die Publikation einer offiziellen Reichsstatistik noch befeuert wurde.9 In den Augen vieler zeigten sich in diesen Statistiken die Symptome der Erosion der christlichen Moral. Zusätzlich wurden diese Statistiken herangezogen um die vermeintlich laxe Verurteilungspraxis an preußischen Gerichten zu kritisieren, die in Bismarcks Worten zu häufig Opfer der "kränklichen Sentimentalität der Zeit" geworden war.10
Bald wurden auch die Ärzte von Dalldorf wegen ihrer zwangsfreien Behandlungen als "sentimentale Humanisten"11 getadelt. Nach der "Entweichung" einiger Patienten im Herbst 1883 sahen sich die Ärzte als Zielscheibe anhaltender Attacken der Berliner Presse, die die Ereignisse bald unter der Rubrik der "Wilden Männer aus Dalldorf" verfolgte.12 Mehr als zwei Jahre lang wurden Zeitungslesern in der deutschen Hauptstadt regelmäßig Nachrichten über solche Entweichungen aus Dalldorf präsentiert. Die Meldungen erreichten ihren Höhepunkt als im Mai 1884 die Lokalpresse über eine "Revolte krimineller Irrer" in einer Nebeneinrichtung von Dalldorf berichtete.13 Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde die Behandlung geisteskranker Straftäter zum dringendsten "Notstand für die Dalldorfer Anstalt".14
In der öffentlichen Wahrnehmung griff die Verbindung von Dalldorf mit dem Stigma des "Wilden Mannes" auf eine bis ins Mittelalter zurückreichende kulturelle Tradition zurück. Der Wilde Mann war eine bekannte Figur auf Festivals und Umzügen (Karneval, Charivari), auf Wappen und auch in der Literatur, besonders in Fabeln und Märchen wie zum Beispiel Der Eisenhans der Gebrüder Grimm. Als eine Art archaischer Halb-Mensch, auf der Schwelle zwischen Natur und Zivilisation schwebend, erfreute sich die Figur des Wilden Mannes einer großen kulturellen Resonanz in deutsch-sprachigen Ländern.15
Man hätte erwarten können, dass zu einer Zeit, als Cesare Lombroso's Bild vom Verbrecher als atavistisch Degenerierter in Europa bekannt wurde, die Dalldorfer Anstaltsärzte die Idee vom Wilden Man bereitwillig aufgegriffen hätten. Aber zu großen Teilen wiesen die Psychiater und Kriminologen Berlins das Lombroso'sche Konzept zurück und verteidigten energisch die therapeutischen Strategien der Dalldorfer Anstalt. Was sie entzweite, war nicht ihre Beurteilung von psychisch erkrankten Straftätern per se, sondern eher die Beurteilung des Schadens, den ihre Behandlung der "emotionalen Ökologie" der Anstalt zugefügt hatte.16 Manche Psychiater stellten zwar fest, dass der Ruf Dalldorfs stark gelitten habe, aber bestanden darauf, dass psychiatrische Krankenhäuser die geeignetsten Orte seien, um den sogenannten geisteskranken Verbrecher zu behandeln.Sie warnten vor der Preisgabe des über Jahrzehnte hart erkämpften Grundprinzips, dass eine Anstaltspflege allen geisteskranken Menschen – einschließlich Gefängnisinsassen – zu ermöglichen sei. Sie gingen sogar so weit zu behaupten, dass die Ängste der Öffentlichkeit – wenn sie überhaupt existierten – nichts anderes als Artefakte einer systematischen Kampagne seien, die sich zum Ziel gesetzt hatte, geisteskranke Straftäter aus den Heilanstalten zu entfernen und stattdessen in gefängnisartigen Einrichtungen unterzubringen.17
Für andere hingegen waren die Ängste der Öffentlichkeit durchaus real und der Schaden, der durch die Presseberichte über die "Wilden Männer von Dalldorf" entstanden war, zu groß. Diese Psychiater wollten psychisch kranke Straftäter aus den Anstalten entfernen und stattdessen in Gefängnissen behandelt sehen. Für sie war es äußerst wichtig, das Vertrauen der Öffentlichkeit und das Mitgefühl der Berliner Bürger nicht aufs Spiel zu setzen und dafür zu sorgen, dass die Politik des "no-restraint" nicht durch geisteskranke Straftäter gefährdet würde. Die Berichtserstattung der lokalen Presse würde ansonsten Familien zögern lassen, ihre zwar geisteskranken aber moralisch "unbescholtenen" Angehörige in eine Anstalt zu geben, und zwar aus Sorge, dass sie dort dem korrumpierenden Einfluss von Kriminellen ausgesetzt werden würden. Und noch wichtiger: Wenn Berichte über die Wilden Männer von Dalldorf die Ängste der Öffentlichkeit schürten, würde die Reintegration von Patienten in ihre lokalen sozialen Zusammenhänge erheblich erschwert.
Die non-restraint-Politik half sicherlich, den Ruf von Heilanstalten zu verbessern, indem sie diese von Gefängnissen abgrenzte. Aber paradoxerweise, so zeigt die Analyse der Behandlung der "Wilden Männer" von Dalldorf, lief diese Politik auch Gefahr, Ängste der Öffentlichkeit zu erzeugen und das nötige Mitgefühl zu untergraben, auf das die außerhalb der Anstalt stattfindenden Maßnahmen – wie z.B. die vorläufige Entlassung und die Familienpflege – angewiesen waren, um wirksam sein zu können.
Wenn wir die Überschreitung der Anstaltsschwelle als die Durchquerung eines emotionalen Raumes interpretieren, oder anders gesagt, wenn wir unsere historischen Dokumente mit Blick auf die emotionale Ökologie der Anstalt lesen, dann wird sich unser historisches Verständnis dieser Durchquerungen und ihrer Bedeutungen erheblich verbessern. Wir werden dann in der Lage sein, die Erfahrungen unserer historischen Akteure besser zu begreifen und zu zeigen, wie ihre Handlungen durch emotionale Faktoren beeinflusst wurden. Damit können wir einen historiografischen Weg einschlagen, der zwar unseren gewohnten Einkerkerungsnarrativen weniger verpflichtet ist, uns dafür aber Erzählformen in Aussicht stellt, die ambivalenter, komplexer und plausibler sind.
Referenzen
1 Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt: Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980 (Göttingen: Wallstein, 2010), 31.
2 Magistrat Berlin, Instructionen und Bestimmungen, betreffend die Irren- und Idiotenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf (Berlin: Grunert, 1885), insbesonders Abschnitte 7, 8, 15 und 16.
3 [Carl Ludwig] Ideler, "Provisorische Beurlaubung," Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 32 (1875): 651-52; Carl Wilhelm Ideler, "Geschichtliche Entwickelung der städtischen Irrenpflege in Berlin," in Die städtische Irren-Anstalt zu Dalldorf, ed. Magistrat zu Berlin (Berlin: Springer, 1883), 3-52
4 Konrad Alt, Über familäre Irrenpflege, Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Nerven- und Geisteskrankheiten, vol. 2.7/8 (Halle: Marhold, 1899), 37; Thomas Beddies und Heinz-Peter Schmiedebach, "Die Diskussion um die ärztlich beaufsichtigte Familienpflege in Deutschland. Historische Entwicklung einer Maßnahme zur sozialen Integration psychisch Kranker," Sudhoffs Archiv 85 (2001): 82-107; Alfred Bothe, Die Familiale Verpflegung Geisteskranker (System der Irren-Colonie Gheel) der Irren-Anstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf in den Jahren 1885 bis 1893 (Berlin: Springer, 1893), 24; Herbert Loos, "Die psychiatrische Versorgung in Berlin im 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts – Aspekte der sozialen Bewältigung des Irrenproblems in einer dynamischen Großstadtentwicklung," in Zur Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, ed. Achim Thom (Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit, 1984), 98-111.
5 Vgl zum Beispiel Albert Guttstadt, Krankenhaus-Lexikon für das Königreich Preussen: Die Anstalten für Kranke und Gebrechliche und das Krankenhaus-, Irren-, Blinden-, und Taubstummenwesen im Jahre 1885, 2 vols. (Berlin: Verlag des Königlichen statistische Bureaus, 1885/86), 216.
6 Anonymous, "Zeitweise Entlassung aus den Strafanstalten," Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 39 (1883): 147-48; R. Schroeter, "Die Beurlaubung geisteskranker Verbrecher aus der Irrenanstalt," Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 38 (1882): 310-27.
7 "Dass ein einzelner Fall uns einmal täuschen und dadurch Unannehmlichkeiten bereiten kann, darf uns bei der grossen Wohltat, welche wir durch die Beurlaubung so Vielen erweisen, nicht abschrecken…" Schroeter, "Beurlaubung", 322.
9 Vgl. "Zunahme der Verbrechen und Vergehen," Neueste Mittheilungen, 19 Mai 1885, No. 54.
10 Uwe Wilhelm, Das deutsche Kaiserreich und seine Justiz: Justizkritik, politische Strafrechtsprechung, Justizpolitik, (Berlin: Duncker & Humblot, 2010), 107.
11 Wilhelm Sander and A. Richter, Die Beziehungen zwischen Geistesstörung und Verbrechen nach Beobachtungen in der Irrenanstalt Dalldorf (Berlin: Fischer's medicinische Buchhandlung, 1886), 174.
12 In seiner Betrachtung aus dem Jahre 1886, diskutiert Sander 65 Fälle von entwichenen Anstaltsinsassen. Ibid. 1-129.
13 Vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 12 Mai 1884, Nr. 220 und Kreuzzeitung, 14. Mai 1884.
14 Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 41 (1885): 730.
15 Louis A. Sass, Madness and Modernism: Insanity in the Light of Modern Art, Literature, and Thought (New York: Basic Books, 1992). Ich danke den Teilnehmern des Forschungskolloquiums von Anke te Heesen im Fachbereich Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin für Hinweise auf diese kulturelle Tradition.
16 Carl Moeli, "Was lehren die in Dalldorf gemachten Erfahrungen für die Frage nach der Unterbringung geisteskranker Verbrecher?" Berliner Klinische Wochenschrift 24 (1887): 46-8.
17 Sander and Richter, Geistesstörung und Verbrechen, 355-7.