Gleichgeschlechtliches Verlieben im Wandel
von Benno Gammerl
Frauenliebende Frauen und männerliebende Männer haben ihre emotionalen Muster und Praktiken immer wieder an sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen angepasst. Sogar die Art und Weise, wie sie sich ineinander verliebten – stürmisch oder allmählich –, änderte sich im Lauf der Zeit. Gleichzeitig wirkten homosexuelle Menschen mit ihren Gefühlen, mit ihrer Wut und ihrer Scham, mit ihrem Stolz und ihrer Freude auch aktiv an gesellschaftlichen Transformationsprozessen mit. Gerade diese Wechselwirkungen machen die Zeitgeschichte der Homosexualitäten zu einem emotionshistorisch so spannenden Feld.
Die 1970er Jahren markieren in dieser Geschichte eine wichtige Zäsur. Bis 1969 konnten Männer in der Bundesrepublik zu Haftstrafen verurteilt werden, wenn sie mit anderen erwachsenen Männern Sex hatten. Frauen, die andere Frauen begehrten, waren damals so gut wie unsichtbar. Erst in den 1970er Jahren begann sich das mit dem Einsetzen der lesbischen und der schwulen Emanzipationsbewegungen zu verändern. Frauenliebende Frauen und männerliebende Männer zeigten sich nun zunehmend provokativ in er Öffentlichkeit und traten selbstbewusst für ihre Rechte ein. Zahlreiche lesbischwule Initiativen und Organisationen eröffneten gleichgeschlechtlichen Lebens- und Liebesweisen neue Räume und Möglichkeiten. Einige der Frauen- und der Studentenbewegung nahe stehenden Lesben und Schwulen hofften damals auf eine umfassende Revolutionierung der sexuellen Verhältnisse. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Stattdessen trugen die Bewegungen mit dazu bei, dass sich die Normalisierung der Homosexualitäten beschleunigte. Da wo früher von Sünde und Verbrechen die Rede war, spricht man heute von einer sexuellen Spielart unter vielen. Die Ansprüche und Probleme homo- und heterosexueller Menschen unterscheiden sich heutzutage – so scheint es zumindest – kaum mehr voneinander. Wie wirkte sich diese Veränderung ihrer gesellschaftlichen Position auf die Art und Weise aus, wie frauenliebende Frauen und männerliebende Männer mit Gefühlen wie Scham, Liebe, Trauer oder Angst umgingen, wie sie diese Gefühle empfanden und ausdrückten?
Die Oral History, also die Forschung in Zusammenarbeit mit Zeitzeug_innen, ist eine wichtige Methode, die dabei helfen kann, Antworten auf diese Fragen zu finden. In den beiden Passagen aus dem Interview, das ich 2008 mit Frau Fischer geführt habe, erzählt sie, wie sie sich zu unterschiedlichen Zeiten verliebt hat: 1972 in Helga und 1998 in Gesine. Bei der Verschriftlichung oder Transkription der Interviews wurden übrigens alle Personen- und Ortsnamen verändert, um die Anonymität der Erzählperson zu garantieren. Gleichzeitig haben ich und meine Mitarbeiter_innen darauf geachtet, dass der Tonfall der mündlichen Rede so gut als möglich erkennbar bleibt. Deswegen sind in dem Text nur die betonten Silben mit Großbuchstaben geschrieben und kurze Sprechpausen mit (.) markiert. Längere Pausen oder nicht-sprachliche Äußerungen wie ein Auflachen sind in Klammern notiert. Diese Genauigkeit ist deswegen wichtig, weil es bei der Interpretation der Interviews nicht nur darauf ankommt, was die Gesprächspartner_innen sagen, sondern auch darauf, wie sie ihre Geschichten erzählen.
Denn die Aussagen der Erzählpersonen über die Gefühle, die sie selbst früher empfunden haben, eröffnen mitnichten einen direkten Zugang zu den Emotionen der Vergangenheit. Selbst im Augenblick des Fühlens fällt es vielen Menschen nicht leicht, ihre Gefühle präzise zu benennen. Um wie viel undurchsichtiger ist dementsprechend die Erinnerung an frühere Empfindungen. Wenn frau oder man gebeten würde, zu erzählen, was sie empfanden, als sie ihre späteren Partner_innen zum ersten Mal trafen, dann hätten ihre Erinnerungen zwar sicherlich viel mit dem zu tun, was Sie damals fühlten, selbst wenn ihre damaligen Gefühle nicht unbedingt eindeutig waren. Aber keinesfalls entspräche die erinnernde Erzählung eins zu eins dem damaligen Erleben. Falls sich das betreffende Paar mittlerweile wieder getrennt hätte, würde dieses Ereignis vermutlich auch die davor liegenden Erlebnisse in einem anderen Licht erscheinen lassen. Und falls die Erzählperson in der Zwischenzeit ihr Coming-Out als Lesbe oder als Schwuler hinter sich gebracht hätte, könnte sich dieser Bruch noch deutlicher darauf auswirken, wie sie in der Rückschau ihre früheren heterosexuellen Beziehungserfahrungen interpretiert und schildert.
Gerade wegen dieser Multiperspektivität und dieser Vielschichtigkeit sind biografische Erzählungen als historische Quellen besonders aussagekräftig. Allerdings ist es nicht einfach, dabei zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen. Wenn jedoch eine Erzählpersonen einander ähnelnde emotional relevante Situationen und Ereignisse aus unterschiedlichen Phasen ihres Lebens auf – sowohl dem Inhalt als auch der Form nach – deutlich unterschiedliche Weise beschreibt, dann kann es durchaus gelingen, historisch spezifische emotionale Muster und Praktiken zu beschreiben. Frau Fischers Erzählung bietet genau diese Möglichkeit. In beiden Passagen berichtet sie davon, wie sie sich in andere Frauen verliebt hat. Während die Geschichte über die frühen siebziger Jahre jedoch das Unerklärliche und das Plötzliche dieses Ereignisses betont, bietet die zweite Passage über die späten neunziger Jahre durchaus Erklärungen dafür, warum sich Frau Fischer in Gesine verliebte – mit Annegret lief es nicht mehr so gut – und warum sie ihr auf dem Umweg über verschiedene Situationen und zweifelnde Abwägungen allmählich, aber schließlich doch näher kam.
Diese inhaltlichen Unterschiede korrespondieren nun interessanter Weise deutlich mit den formalen Divergenzen zwischen beiden Passagen. Die erste Geschichte gleicht einem Rondo. Die Schilderung des Ereignisses (1.1-1.6) leitet über in eine Rückblende (1.7-1.17), die schließlich wieder zur Anfangserzählung zurückkehrt (1.18-1.22). Die erzählerische Geschlossenheit dieser Form wird zusätzlich durch die Parallelität der rahmenden und der gerahmten Geschichte unterstrichen. Beide beginnen mit einer Art Überschrift (1.1 und 1.7), schildern dann die Situation (1.2 und 1.8-1.9) und den Auslöser der Annäherungen (1.3 und 1.10-1.11), bevor sie schließlich mit Überlegungen zum zuvor Erzählten enden (1.4-1.6 und 1.12-1.17). Dieses in sich geschlossene Rondo gleicht in seiner Regelmäßigkeit einer geometrischen Figur, die ebenso plötzlich und unvermittelt in der Erzählung auftaucht wie das "Helle zwischen uns".
Die zweite Passage ist dagegen deutlich heterogener, offener strukturiert und von einem nach vorne treibenden Rhythmus geprägt. Zunächst benennt die Erzählung das Thema (2.1), dann schildert sie die Ausgangssituation (2.2), dann spannt sie den narrativen Bogen der (zunächst) einseitigen Anziehung (2.3) und dann reiht sie in rasanter Abfolge Beschreibungen verschiedener Vorgänge, Wahrnehmungen, Empfindungen und Absichten aneinander (2.4-2.27). Erst der narrative Höhepunkt und das glückliche Ende (2.28-2.30) verleihen der Geschichte ihre Kohärenz. Diese erzählerische Struktur entspricht der – im Gegensatz zur plötzlichen Intimität mit Helga – allmählichen Annährung Frau Fischers an Gesine.
Daraus ergibt sich die These, dass das gleichgeschlechtliche Verlieben bis in die 1960er Jahre hinein einem Paradigma der Plötzlichkeit, in späteren Jahren dagegen einem Muster der Allmählichkeit folgte. Diese Annahme bestätigt ein Blick auf die anderen Lebensgeschichten. Während die älteren Gesprächspartner_innen – wie beispielsweise der 1935 geborene Herr Schumann – häufig davon erzählen, wie sie sich ganz unvermittelt verliebten, überwiegen bei den jüngeren Erzählpersonen – wie beispielsweise dem 1970 geborenen Herrn Uhl – Berichte darüber, wie sie anderen Schritt für Schritt näher kamen. Ganz ähnlich verhält es sich bei den Liebesgeschichten in den Homosexuellen-Zeitschriften. Die 1960 in "Der Kreis" veröffentlichte Novelle "Days with Antonio" von Wolfgang Cordan schildert zum Beispiel das Zusammentreffen des Ich-Erzählers mit der Titelfigur als ein Ereignis, das beider Leben gleichsam im Nu und radikal veränderte. In der Kurzgeschichte "Verloren und Gewonnen" aus der "Du&Ich" von 1975 kommen die beiden Protagonisten einander dagegen erst im Verlauf einer Serie von alltäglichen Problemen und Widerständen immer näher. Diese Beispiele zeigen, dass die Verschiedenheit der Muster in Frau Fischers Erzählung nicht allein individuell-persönlichen Entwicklungen, sondern auch sozial-historischen Veränderungen geschuldet ist. Auch in diesem allgemeineren Sinn stand bis 1970 das stürmische Aufeinandertreffen im Vordergrund, das danach von zärtlichen und allmählichen Annäherungen verdrängt wurde.
Dieser Wandel des gleichgeschlechtlichen Verliebens von der Plötzlichkeit zur Allmählichkeit hing, so möchte ich argumentieren, eng damit zusammen, dass sich die Räume entscheidend veränderten, in denen frauenliebende Frauen und männerliebende Männer einander näher kommen konnten. Solche Gelegenheiten – auf öffentlichen Toiletten, bei selten stattfindenden Bällen für ein ausgesuchtes, "gleichgesinntes" Publikum, oder in versteckten Bars, deren Türen sich nur auf ein Klingeln hin öffneten – waren bis Ende der 1960er Jahre zeitlich und räumlich sehr begrenzt. Seit den 1970er Jahren eröffneten lesbischwule Projekte, Selbsthilfegruppen und Organisationen jedoch im Zuge der Enttabuisierung der Homosexualität in Ladenlokalen, an Universitäten, in Stadtteilzentren und anderswo immer mehr Räume, welche die allmähliche Entwicklung von Intimität zwischen Frauen und zwischen Männern ermöglichten. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich Lesben und Schwule heutzutage nicht mehr plötzlich ineinander verlieben könnten. Eher würde ich sagen, dass die Unmittelbarkeit des Verliebens früher selbstverständlicher war, während sie heutzutage eher als bemerkenswerter Ausnahmefall betrachtet wird.
Dieser Wandel emotionaler Muster und Praktiken in Wechselwirkung mit der sich verändernden gesellschaftlichen Situationen frauenliebender Frauen und männerliebender Männer ist aus emotionshistorischer Perspektive sehr aufschlussreich. Allerdings werfen die Befunde noch weiterreichende Fragen auf, die mit der Methode der Oral History und dem hier diskutierten Material allein nicht mehr ohne Weiteres beantwortet werden können. Dennoch lohnt es sich, diese Fragen zumindest zu stellen: Prägt der Übergang von der Plötzlichkeit zur Allmählichkeit nicht auch den Wandel heterosexueller Begegnungen, die seit der Abschwächung des sogenannten Kuppeleiparagrafen um 1970 ebenfalls entspannter ablaufen können? Ist der Gegensatz von stürmisch und vorsichtig nicht sogar ganz generell für das westliche Verständnis von Liebe entscheidend, spätestens seit der Romantik und vielleicht sogar bis heute? Diese Fragen verweisen abschließend darauf, dass sich emotionale Muster und Praktiken auf unterschiedlichen Ebenen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verändern. Mit der Analyse eher kurzfristiger Umschwünge wie dem Wandel des gleichgeschlechtlichen Verliebens um 1970 ist die Geschichte der Liebe deswegen noch lange nicht erschöpfend behandelt. Damit wären wir zu guter Letzt wieder bei der Vielschichtigkeit angelangt, die nicht nur die Oral History, sondern auch die Geschichte der Gefühle so spannend und reizvoll macht.