Gemischte Gefühle
Trost, Ärger und ein Knabenchor in Berlin, 1887
von Joseph Ben Prestel
Am 5. Januar 1887 schickte Leutnant Laiber, Leiter des 42. Polizeireviers in Berlin, einen Bericht über die Aktivitäten eines Knabenchores in Kreuzberg an das Berliner Polizeipräsidium. Laiber schreibt darin, dass ein Schutzmann aus seinem Revier namens Werner um zehn Uhr morgens zu einem Mietshaus in der Prinzessinnenstrasse gerufen wurde. Im Hinterhof des Gebäudes traf der Polizeibeamte einen Chor von acht Jungen an, die christliche Lieder sangen. Laiber zufolge war der Chorleiter, ein gewisser Friedrich Marquardt, bei der Aufführung abwesend und hatte die Leitung des Chores einem vierzehnjährigen Schuljungen übertragen. Der Bericht betont, dass die Aufführung ohne die Aufsicht eines Erwachsenen zu einer Belästigung wurde:
Die Knaben stießen sich gegenseitig absichtlich an, auch lachten einzelne während des Gesangs überlaut und sammelten abwechselnd, die ihnen seitens der Mieter resp. Bewohner des Hauses herabgeworfenen Geldstücke ein. Außerdem wurden die geistlichen Lieder so unharmonisch und unverständlich gesungen, daß der Gesang einer Gotteslästerung glich und die Bewohner über einen derartigen Erwerbszweig ihr Bedauern aussprachen.1
Auf Grund dieses Berichts kontaktierte das Polizeipräsidium Friedrich Marquardt. In dem Anschreiben wurden die Beschuldigungen des Leiters des 42. Polizeireviers wiederholt. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass die beabsichtigte positive emotionale Wirkung des Chorgesanges auf den Kopf gestellt worden war. Anstatt "Erbauung" hättendie Zuhörer "nur Ärgernis" an der Aufführung haben können.2 Das Polizeipräsidium drohte Marquardt die Erlaubnis für öffentliche Aufführungen zu entziehen, falls der Chor erneut ohne "eines Erwachsenen Leitung" aufträte und "derartige Ungehörigkeiten" sich fortsetzten.3 In seiner Antwort auf diesen Brief versicherte Friedrich Marquardt, dass Aufführungen ohne die Leitung eines Erwachsenen die absolute Ausnahme wären. Er habe an besagtem Morgen lediglich beabsichtigt etwas später einzutreffen. Um diese Klarstellung noch zu bekräftigen, fügte Marquardt eine andere Schilderung der Aufführung des Chores am 5. Januar und dessen emotionaler Wirkung bei. Laut Marquardt war der Chor zum Mietshaus in der Prinzessinenstrasse geschickt worden um ein Neujahrslied zu singen. Er betonte, dass das Lied gut einstudiert war und der Chor es auch ohne einen erwachsenen Chorleiter hätte singen können. Tätsächlich hätten die Jungen das Neujahrslied "zur vollen Befriedigung" der Bewohner des Mietshauses "ausgeführt". Dies habe ihm der Hauswirt in einer Stellungnahme bestätigt. Dann jedoch hätte eine Dame, die im Haus lebte, einen besonderen Wunsch geäußert:
[Der Chor] ist dann aber von der Hausfrau, die wegen eines Krankheitsfalles in der Familie betrübt war, ersucht worden, noch das Lied „Harre, meine Seele“ zu singen. Hierzu fühlten sich jedoch die Altisten augenblicklich, da sie keine Chorhefte mit sich führten, in ihrer Stimme nicht sicher und weigerten sich anfänglich. Darüber ist dann wie Frau und Tochter bezeugt haben, vor Beginn des Gesanges wohl ein etwas unruhiges Besprechen und ein gegenseitiges Schieben unter den Knaben entstanden, und es hat auch während des Singens einer den anderen, der falsch gesungen, angestoßen und dabei etwas gelacht, sie haben aber das ganze Lied in der Melodie ohne Anstoß und in einer Weise durchgeführt, daß sich die ganze Familie, wie sie versichert, sich herzlich erbaut hat. Dieselbe bedankt sich ausdrücklich.4
Marquardt erklärte weiter, dass nur die diejenigen Bewohner des Hauses von "Ärger statt Erbauung" sprechen konnten, die unzufrieden darüber waren, dass ein für seine Trunkenheit berüchtigter Bierlieferant nicht mehr im Hinterhof sang seit der Knabenchor das Haus besuchte.5 Letztlich entschied sich das Polizeipräsidium Friedrich Marquardt Glauben zu schenken und seinem protestantischen Knabenchor wurde es gestattet weiterhin auf Berliner Hinterhöfen zu singen. Als Reaktion auf den Vorfall wurde Marquardt jedoch verpflichtet, für jeden Chorleiter, der die Jungengruppen bei ihren Aufführungen begleitete, eine Erlaubnis einzuholen.6
Die vorliegende Quelle wirft ein Licht auf die Aufführungen von protestantischen Knabenchören in Berlin im späten 19. Jahrhundert, die einen wichtigen Bestandteil kirchlicher Interventionen in Arbeitervierteln darstellten. Die Polizeiakte zeigt wie in diesem Zusammenhang Konflikte über Gefühle entstehen konnten. Friedrich Marquardt gründete seinen Knabenchor im Jahr 1852, als er Pastor und Lehrer an einer Schule für inhaftierte Jungen in Berlin war. Marquardt hoffte, dass durch die Wiederbelebung des Brauches der protestantischen "Kurrendesänger" sowohl seine Schüler erzogen als auch eine "Belebung des religiösen Volksgeistes" in der Stadt erfolgen würde.7 In den ersten Jahren seiner Existenz trat der Chor in zwei verschiedenen Kontexten auf. Um Geld in den "höheren Kreisen" zu sammeln sangen die Kurrendesänger im Rahmen verschiedenen Festveranstaltungen. Darüber hinaus zog der Chor auch durch die Stadt und sang christliche Lieder in den Höfen von Mietshäusern in den Berliner Arbeitervierteln. Marquardts Chor war eine von vielen protestantischen Initiativen, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Ziel entstanden, eine vermeintliche Abnahme von Religiosität in Berlin zu bekämpfen. Emotionen spielten bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle.Wie Bettina Hitzer gezeigt hat, gab es verschiedene Projekte - von der Fürsorge für "gefallene" Frauen bis zu Hausbesuchen – die zum Ziel hatten, ein "christlich-protestantisches Netz der Liebe" in der deutschen Hauptstadt zu spannen. Dieses "Netz der Liebe" sollte besonders Neuankömmlinge und Angehörige der Arbeiterklasse davor bewahren, in die Fallen der unmoralischen Liebe, krimineller Unternehmungen und revolutionärer Gedanken zu geraten.8 Das Singen wurde dabei als wichtiges Mittel beschrieben, um die "Herzen" der Stadtbewohner zu erreichen. Die Berliner Stadtmission, einer der wichtigsten Akteure unter den protestantischen Initiativen für religiöse Erneuerung, sprach in einem Zeitschriftenartikel davon, dass die von Haus zu Haus ziehenden Knabenchöre einen emotionalen Weckruf in die kalte Dunkelheit der Metropole aussenden würden, schließlich habe "der Gesang guter, heiliger Lieder eine große Gewalt (...) über die Menschenherzen."9
Obwohl Friedrich Marquardt mit der Stadtmission kooperierte, hielt er seinen Chor unabhängig. Marquardt war auch in regelmäßigem Kontakt mit der Polizei, da Paragraph 33b des Handelsgesetzes vom Juli 1883 besagte, dass "wer gewerbsmäßig Musikaufführungen (...) von Haus zu Haus oder auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen darbieten will, (…) der vorgängigen Erlaubniß der Ortspolizeibehörde [bedarf]."10 In seinem Antrag für eine solche Erlaubnis aus dem Jahr 1885 beschreibt Marquardt den Zweck des Chores mit einem emotionalem Vokabular, das dem der Stadtmission sehr ähnlich war. Marquardt führt aus, dass er "aus freier Liebe zu der Jugend des Berliner Proletariats" seine Arbeit mit den Kindern aus der Arbeiterklasse begonnen habe.11 Neben seiner Botschaft der Liebe hob er auch hervor, dass der Chor zunächst die Stadtbewohner gewinnen müsse. Man solle nicht erwarten, so Marquardt, dass die Bewohner der Mietshäuser eine automatische "Willigkeit" zeigen würden seine Kurrende in ihren Höfen singen zu lassen. Daher müsse der Chor den Zuhörern zunächst einige kurze Beispiele seiner Musik geben mit dem Ziel"Wohlgefallen an dem Gesange zu erwirken."12 Marquardts Ausführungen deuten somit bereits auf die Emotionen hin, welche die Kurrende erzeugen konnte und die während der Vorführung im Januar 1887 zu Tage traten.
Obwohl die Beschwerde gegen die Aufführung in der Prinzessinnenstrasse keine weitreichenden Konsequenzen für die protestantischen Knabenchöre in Berlin hatte, zeigt der Polizeibericht deutlich die Bedeutung, die der Darstellung von Gefühlen in den Aushandlungsprozessen zwischen protestantischen Initiativen, Stadtbewohnern und der Polizei beigemessen wurde. Die Quelle spiegelt dabei zwei unterschiedliche Erzählungen über die Emotionen im Zusammenhang der Vorführung wider. In der ersten Erzählung, die vom Leiter des 42. Polizeireviers verfasst wurde, erzeugte der Gesang Ärger und war eine Belästigung. Die Reaktion der Polizei auf diesen Zwischenfall zeigt, dass gewisse Emotionen im öffentlichen Raum als höchst problematisch angesehen wurden. Wie Thomas Lindenberger in seiner Studie über Straßenpolitik im Berlin der Jahrhundertwende ausführt, konzentrierte sich ein großes Maß der Polizeiarbeit auf verschiedene Praktiken, die mit der Störung von "Frieden, Ordnung, und Sicherheit" durch die Arbeiterklasse in Verbindung gebracht wurden.13 Zeitungsberichte über die "Krawalle" von 1872 in der Blumenstrasse veranschaulichen, wie eng zeitgenössische Quellen den öffentlichen Ausdruck von Ärger in Arbeitervierteln mit dem Risiko eines Gewaltausbruchs verknüpften. So kommentierte die Berliner Gerichtszeitung etwa, dass unter den gegenwärtigen Umständen "der Gährstoff, welcher (...) die Bevölkerung (...) erfüllt, (...) nur des kleinsten Zündfunkens [bedarf], um zu explodieren und in seiner überströmenden Gewalt Unheil anzurichten."14 Vor dem Hintergrund dieser wahrgenommenen Bedrohung versuchte die Polizei Äußerungen von Ärger zu unterbinden und Menschenansammlungen im öffentlichen Raum zu verhindern. Ungeachtet der Intention des Chores, stellte somit allein die Tatsache, dass das Singen im Hinterhof Ärger erzeugen konnte, die Duldung der Auftritte durch die Polizei in Frage.
Friedrich Marquardt selbst erkannte implizit an, dass der Chor keinen Ärger verursachen sollte. Gleichzeitig zeichnete er jedoch ein anderes Bild von der besagten Aufführung. Während er zugab, dass einige Hausbewohner möglicherweise verärgert gewesen seien, betonte er, dass eine Reihe von Mietern Gefühle von Befriedigung und Trost ausgedrückt hätten. In Marquardts Erzählung beförderte sein Chor nicht nur eine Botschaft der Liebe, sondern reagierte auch auf die emotionalen Forderungen der Bewohner des Hauses, namentlich den Wunsch nach Trost in der Trauer. Marquardts frühere Korrespondenz mit der Polizei zeigt, dass dieser Anspruch "positive" Gefühle zu verbreiten nicht nur zentral für seine Selbstdarstellung war. Er war auch wichtig, um die Erlaubnis zu erhalten mit seinem Chor in Berliner Hinterhöfen zu singen. Der Fall aus dem Januar 1887 zeigt auf diese Weise, wie protestantische Initiativen in der Stadt den emotionalen Einfluss ihrer Aktivitäten im öffentlichen Raum mit der Polizei aushandelten.
Nicht zuletzt liefert die Polizeiakte auch Informationen über die Bewohner des Mietshauses. Obwohl diese nicht direkt an der Produktion des Dokuments beteiligt waren, liefert die Quelle plausible Hinweise über ihre Teilnahme an dem Konflikt. So suggeriert die Tatsache, dass die Polizei zum Gebäude in der Prinzessinnenstrasse gerufen wurde ein aktives Mitwirken der Anwohner an dem Vorwurf, dass der Chor Ärger verursachte. Diese Beobachtung wird weiter unterstrichen durch Friedrich Marquardts Eingeständnis, dass einige Zuhörer verärgert gewesen sein mögen. Weiterhin deuten Marquardts Ausführungen darauf hin, dass es auch schon bei anderen Gelegenheiten Ärger gegeben hatte. Die Erklärung des Vorfalls durch den Chorleiter basiert wiederum auf der Aussage, dass es Bewohner gab, die ein Lied zum Trost gefordert hätten. Während sich nicht mit Sicherheit feststellen lässt, ob der Chor das Lied "Harre meine Seele" tatsächlich auf Bitten trauernder Familienangehöriger sang oder ob dies lediglich eine Behauptung Friedrich Marquardts war, lässt sich doch festhalten, dass diese Darstellung zumindest plausibel genug war um von der Polizei akzeptiert zu werden. Auf diese Weise legt die Polizeiakte nahe, dass einige Anwohner des Gebäudes in Kreuzberg über die Vorführung des protestantischen Knabenchores verärgert waren, während andere den Chor als eine Möglichkeit nutzten, um Trost in ihrer familiären Trauer zu suchen.
Andere zeitgenössische Quellen zeigen ähnliche Konfrontationen zwischen Anwohnern und protestantischen Knabenchören. Eine Polizeiakte aus dem Jahr 1899 enthält etwa einen Bericht zweier Polizeibeamter, die beschreiben, wie eine Aufführung des Knabenchores der Berliner Stadtmission in der Luisenstrasse zu dem Auflauf einer Menschenmenge von mehr als 100 Personen führte, die sich über die Sänger lustig machten und sie beleidigten.15 Aufbauend auf solche Polizeiakten kann eine Geschichte der Gefühle einen Beitrag zu ganz unterschiedlichen Forschungskontexten in der Geschichte des Kaiserreichs liefern. Vor allem zeigen diese Quellen, wie wichtig Emotionen bei der Aushandlung von "Frieden und Ordnung" im öffentlichen Raum waren. Um von den Behörden geduldet zu werden, mussten die protestantischen Initiativen sicherstellen, dass sie nicht als Unruhestifter, die gefährliche Emotionen in den Massen hervorrufen, gesehen wurden. Darüber hinaus verdeutlichen Polizeiakten auch die Rolle von Emotionen in den Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern von Arbeitervierteln und protestantischen Geistlichen, die diese Wohngegenden aufsuchten um gegen den vermeintlichen Niedergang der Religiosität in der Stadt anzugehen. Die hier geschilderten gemischten Gefühle, die von Ärger bis zu Trost reichten, zeigen, dass die Bewohner eine ambivalente Haltung zu solchen Aktivitäten hatten. Die vorliegende Quelle kann vor diesem Hintergrund nicht einfach als ein Entweder-oder zwischen "Herrschaft" und subalternem "Widerstand" gesehen werden. Viel eher spiegelt die Polizeiakte ein Repertoire von Emotionen in Arbeitervierteln wider, dass die emotionale Botschaft der protestantischen Initiativen sowohl aufnehmen als auch konterkarieren konnte. Die Quelle beleuchtet somit einen Aspekt dessen, was Historiker seit Kurzem als emotionale Kultur des Arbeitermilieus im deutschen Kaiserreich untersuchen.16
Referenzen
1 Bericht vom 5. Januar, 1887, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, Landesarchiv Berlin (LAB), A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
2 Brief vom 13. Januar 1887, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
4 Brief vom 9. März 1887, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
6 Brief vom 19. März 1887, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
7 Brief vom 26. August 1885, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
8 Bettina Hitzer, Im Netz der Liebe: Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer (Köln: Böhlau, 2006), 4.
9 Max Braun, "Die Berliner Kurrendeknaben,", Bilder aus der Stadtmission 11 (1911), 6.
10 Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung, in: Deutsches Reichsgesetzblatt15 (1883), S. 160.
11 Brief vom 26. August 1885, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
13 Thomas Lindenberger, Straßenpolitik: Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914(Bonn: Dietz, 1995).
14 "Stadtgericht," Berliner Gerichtszeitung vom 19. Oktober 1872.
15 Brief vom 30. Juni 1899, Die Kurrendesänger der Berliner Stadtmission, LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 18683.
16 Vgl. hierzu etwa die Überlegungen von Bettina Hitzer zu einer Emotionsgeschichte der Arbeitwerbewegung im Kaiserreich anlässlich der Tagung "Neue Perspektiven auf die Geschichte der Arbeiterbewegung": Yves Clairmont, "Tagungsbericht: Neue Perspektiven auf die Geschichte der Arbeiterbewegung. 18.02.2010, Bonn," H-Soz-Kult, 12.05.2010.